»Alle Juden sind Brüder«, sagte der legendäre Schnorrer zu Rothschild und wollte damit andeuten, dass er und der Baron eigentlich Verwandte wären. Rothschilds Antwort wird von der Geschichte nicht überliefert. Vermutlich ist er seiner inneren Bewegung Herr geworden.
In Israel treten diese verwandtschaftlichen Bande sehr stark zutage. Zu den Dingen, die uns brüderlich vereinen, gehört auch die Liebe zur Musik. Wir sind geradezu verrückt nach Musik. Er macht uns geradezu wahnsinnig, dieser ewige Krach.
Gestern nacht ging ich zeitig zu Bett, weil ich am Morgen schon um halb zehn
aufstehen musste. Es glückte mir, verhältnismäßig rasch einzuschlafen. Aber nach
etwa einer Stunde wurde ich rüde geweckt.
»Wir wollen schlafen!« brüllte eine hasserfüllte Stimme.
»Es ist zehn Uhr vorbei. Stellen Sie das Radio ab, Sie Idiot!«
Ich setzte mich im Bett auf. Von fern, aus der äußersten Ecke unseres
Häuserblocks, glaubte ich leise Musikklänge zu vernehmen. Ganz sicher war ich
nicht, weil das zornig anschwellende Stimmengewirr alles übertönte:
»Wir wollen schlafen! Ruhe! Das Radio abdrehen! Ruhe!«
Nach und nach erwachten auch die Bewohner der angrenzenden Häuser. In vielen
Fenstern wurde es hell. Der Delikatessenhändler uns gegenüber formte aus seiner
Zeitung einen Schalltrichter und verlangte Respekt vor der neuen
Anti-Lärm-Verordnung.
Der jemenitische Eisverkäufer Salah in Stockwerk unter uns stieß mehrmals den
Namen Ben Gurion hervor, was bei ihm ein sicheres Zeichen hochgradiger Erregung
ist. Ich selbst schlüpfte rasch in meinen Schlafrock, um mich besser
hinausbeugen zu können. Ich liebe es über alles, Leute streiten zu sehen. Das
ist ein menschlicher Zug von mir. »Ruhe! « brüllte ich in die Nacht hinaus. »Wo
ist das Hauskomitee? Komitee ! « Manfred Toscanini, den meine Leser bereits aus
früheren Geschichten kennen und der mit dem gleichnamigen Dirigenten noch immer
nicht verwandt ist, erschien auf dem Balkon seiner Wohnung und murmelte etwas
Unverständliches. Manfred Toscanini ist Vorsitzender unseres
Hausverwaltungskomitees. Aufmunternde Zurufe klangen ihm entgegen. »Auf was
warten Sie? Sind Sie der Vorsitzende des Komitees oder sind Sie es nicht? Rühr
dich! Mach was! Rufen Sie die Polizei! Für diese Art der Ruhestörung gibt es
heute bis zu einem Jahr Gefängnis! Los!«
»Einen Augenblick!« schrie Toscanini. »Wenn ihr so einen Lärm macht, kann ich ja
gar nicht feststellen, wo der Lärm herkommt!« Wir verstummten.
Es zeigte sich, dass die Musik aus der rechten Eckwohnung im Parterre kam.
»Katzenmusik!« Das war Salah. Seine Stimme überschlug sich.
»Sofort die Katzenmusik abstellen! Ben Gurion !«
Toscanini stieg nervös von einem Fuß auf den anderen. Er ist keine Kämpfernatur.
Wir haben ihn nur gewählt, weil er eine schöne Handschrift hat und leicht zu
behandeln ist. »Bitte das Radio abzustellen«, stammelte er. »Bitte. Wirklich.«
Nichts geschah. Die Musik strömte in unverminderter Stärke durch die laue Nacht.
Manfred Toscanini merkte, dass sein Prestige, sein Schicksal, seine Zukunft und
das Glück seiner Kinder auf dem Spiel standen. Er hob die Stimme:
»Wenn diese Katzenmusik nicht sofort aufhört, rufe ich die Polizei.«
Einige Augenblicke atemloser Spannung folgten. Der Zusammenstoß zwischen
Staatsgewalt und Rebellion schien bevorzustehen.
Plötzlich wurde die Musik noch lauter: die Tür der Wohnung, aus der sie kam,
hatte sich geöffnet. im Türrahmen erschien Dr. Nathaniel Birnbaum, Seniorchef
der nahe gelegenen Zweigstelle des Staatlichen Israelischen Reisebüros.
»Wer ist der Ignorant«, fragte Dr. Birnbaum mit volltönender Stimme, »der die
Siebente von Beethoven als Katzenmusik bezeichnet?« Stille. Tiefe, lautlose
Stille. Beethovens Name schwebte zwischen den Häusern einher, drang den
Bewohnern in Mark und Bein und wurde wie ein rasch wirkendes Gift von ihrem
Nervensystem absorbiert. Manfred Toscanini, das Gesicht zu einer entsetzten
Grimasse verzerrt, krümmte sich wie ein Wurm. Ich meinerseits trat einen Schritt
vom Fenster zurück, um klarzustellen, dass ich mich mit seinem niveaulosen
Verhalten in keiner Weise identifizierte.
Während all dieser Zeit blieb die himmlische Musik diskret hörbar. Dr. Birnbaum
verabsäumte es nicht, seinen Sieg bis zur Neige auszukosten:
»Nun? Wo steckt der Analphabet? Für wen ist Beethovens Siebente Katzenmusik?
Beethovens Siebente!« Verlegenes Räuspern. Beschämtes Husten. Schließlich
flüsterte der schurkische Delikatessenhändler mit verstellter Stimme:
»Es war der Vorsitzende des Komitees«.
»Ich gratuliere!« Der Hohn in Dr. Birnbaums Stimme war nur zu berechtigt.
»Ich gratuliere uns allen zu einem solchen Vorsitzenden! « Damit drehte er sich
um und verschwand gelassenen Schritts in seiner Wohnung. Eine schwer zu
beschreibende Welle kultureller Überlegenheit ging von ihm aus.
Kläglich und vereinsamt blieb Manfred Toscanini auf der Walstatt zurück, ein
geschlagener Mann. »Ich war so zornig«, sagte er entschuldigend, »ich war vor
Wut so zornig, dass ich vor Zorn die Siebente von Beethoven nicht erkannt habe .
. . »Pst!« zischte es von allen Seiten auf ihn los. »Ruhe! Mund halten! Man kann
die herrliche Musik nicht hören!« Mit gesenktem Kopf zog sich Manfred Toscanini
in seinen Bau zurück.
Wir andern lauschten im Zustand völliger Verzauberung dem Titanenwerk jenes
größten aller Musikgenies. Zahlreiche Hausbewohner streckten sich behutsam auf
ihren Liegestühlen aus und schlossen die Augen, um sich den unsterblichen
Klängen besser hingeben zu können. Und ich? Ich sah zum sternenbedeckten Himmel
empor, und meine Lippen formten leise und demütig ein einziges Wort:
»Beethoven.«
Nur der Jemenite Salah und sein Weib Etroga störten die weihevolle Stille mit
ihrem Getuschel.
»Wer ist das?« fragte Etroga.
»Wer ist wer?«
»Dieser Herr . . . wie heißt er nur . . . Betovi . . .«
»Ich weiß nicht. «
»Muss ein wichtiger Mann sein, wenn alle solche Angst vor ihm haben. «
»Ben Gurion«, sagte Salah. »Ben Gurion.«
»Und warum hast du geschrien, wenn du nichts weißt?«
»Alle haben geschrien.«
»Alle dürfen. Du darfst nicht. Deine Verkaufslizenz ist nicht in Ordnung. Hast
du vergessen, was deinem Freund Shimuni passiert ist, weil er sein großes Maul
zu weit aufgerissen hat?«
Salah schlotterte vor Angst. »Herrlich!« rief er so laut, dass jeder es hören
konnte. »Eine herrliche Musik!«
Uri, der Sohn des Apothekers, den die plötzliche Stille geweckt hatte, kam auf
den Balkon gestürzt und zeterte: »Katzenmusik!« Er bekam von seinem Papa sofort
eine Ohrfeige, was allgemeine Billigung fand. Ein Kind, dem man nicht schon im
zartesten Alter den nötigen Respekt für die großen Kunstschöpfungen beibringt,
kann niemals ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft werden und
endet am Galgen.
Der Professor in der Wohnung rechts von uns, der seit dem letzten Streit mit
seiner Frau, also seit ungefähr vierzig Jahren, kein Wort mehr mit ihr
gesprochen hatte, stand jetzt friedlich neben ihr am Fenster. Beethovens
Himmelsmusik hatte die entzweiten Ehepartner wieder vereint.
Im Bestreben, seine Blamage gutzumachen, summte Manfred Toscanini demonstrativ
ein paar Takte mit. Aber Seine schamlose Unterwürfigkeit ging noch weiter.
»Doktor Birnbaum« rief er. »Bitte drehen Sieden Apparat doch ein wenig stärker
auf! Man kann von hier aus nicht so gut hören . . .Danke vielmals«
Die Musik war lauter geworden. Wie eine große, glückliche Familie saßen die
Hausbewohner beisammen und lauschten.
Wir alle liebten einander. »Gigantisch, dieses Rondo«, flüsterte der Apotheker,
dessen ältester Sohn Harmonika- Unterricht nahm. »Obwohl ich nicht ganz sicher
ob es nicht vielleicht ein Scherzo ist . . . «
Der Delikatessenhändler äußerte einige verächtliche Worte über gewisse
Zeitgenossen, die zwischen einem Rondo und einem Scherzo nicht unterscheiden
können.
Die Gattin des Professors flüsterte mehrmals hintereinander: »A- Dur. . . A-Dur.
. . « Salah beugte sich weit aus dem Fenster und legte beide Hände an die Ohren.
Ich schlug verstohlen meinen »Konzertführer« auf und suchte Siebenten von
Beethoven. Der »Konzertführer« ist ein handliches Büchlein, das man mühelos vor
den Blicken Neugieriger verbergen kann. »Bekanntlich«, so ließ ich mich
vernehmen, »gehört die Symphonie in A-Dur zu Beethovens gewaltigsten
Meisterwerken. Die einleitenden Akkorde werden in verschiedenen Variationen
wiederholt, ehe sie in das Hauptthema des ersten Satzes übergehen. Moderne
Kritiker haben an dieser Exposition etwas auszusetzen . . . «
Mein Ansehen unter den Hausbewohnern stieg sprunghaft, ich fühlte das ganz
deutlich. Bisher, wohl irregeführt durch mein übertrieben bescheidenes Wesen,
hatten sie mich nicht richtig eingeschätzt. Um so zündender wirkte jetzt das
Feuerwerk meiner profunden Musikalität. Die Gärtnerstochter von gegenüber
schickte ihren kleinen Bruder zu mir und ließ fragen, ob ich ihr nicht mein
Opernglas leihen könnte. In einem lendenlahmen Versuch, mir zu widersprechen,
sagte Apotheker: »Die Exposition ist vollkommen in Ordnung. Auch ein Bartók
hätte sie nicht anders aufbauen können.« Gleich bei seinen ersten Worten hatte
ich eilig in meinem »Konzertführer« zu blättern begonnen.
»Vergessen Sie nicht«, hielt ich dem wichtigtuerischen Tölpel entgegen, »dass
der vierte Satz sich zu unwiderstehlicher Rasanz emporschwingt und besonders im
Finale alle irdischen Maße sprengt!« Der ganze Häuserblock lag mir zu Füßen.
Beethovens Genius und meine eigene Brillanz flossen zu sphärischer Einheit
zusammen. So stellte ich mir das Nirwana vor. »Auch Bach ist nicht schlecht«,
brummte der Apotheker und hoffte damit sein Gesicht zu wahren.
Die Musik kam noch einmal auf das Hauptthema zurück. Bläser und Streicher
entfalteten sich in einer letzten, vollen Harmonie, ehe die unsterblichen Klänge
endgültig verschwebten.
Ein Seufzer namenlosen Entzückens entrang sich den Lippen der Zuhörer.
Augenblicke einer nahezu heiligen Stille folgten. Dann meldete sich der Ansager:
Sie hörten die Suite »An den Mauern von Naharia« von Jochanan Stockler, gespielt
von der Kapelle der Freiwilligen Feuerwehr Petach Tikwah. Im zweiten Teil
unseres Abendkonzertes bringen wir klassische Musik auf Schallplatten. Als
erstes hören Sie Beethovens Siebente Symphonie in A-Dur.« Abermals Stille.
Unheilschwangere Stille.
Manfred Toscaninis Gestalt wurde im Fensterrahmen sichtbar und schien
gespenstisch über sich hinauszuwachsen.
»Katzenmusik!« röhrte er, besessenen Triumph in der Stimme. »Hören Sie mich,
Birnbaum, Katzenmusik! He, Birnbaum! Das nennen Sie Beethoven? Ich nenne es
Katzenmusik!« Die Empörung griff unter den Hausbewohnern um sich wie ein
Waldbrand.
»Beethoven !« kreischte die Gattin des Professors und eilte zu einem anderen
Fenster. »Was jetzt, Birnbaum ?« Der Jemenite Salah packte sein Weib am Arm:
»Sie haben uns betrogen!« zischte er. »Wieder einer von ihren schäbigen Tricks!«
»Wenn die Polizei kommt, dann haben wir nichts gesehen«, schärfte ihm seine
Gattin ein.
»Ben Gurion«, sagte der Jemmenite Salah.
Sollte Dr. Birnbaum in seiner lächerlichen Überheblichkeit einem guten Ratschlag
noch zugänglich sein, dann sucht er sich eine andere Wohnung. Bei uns hat er
ausgespielt.
Zu den begehrtesten Statussymbolen in Israel gehört en Abonnement für die
Konzerte des Philharmonischen Orchesters.
Sein Besitz gilt als Ehrensache für jeden, der Lage ist, seiner Frau ein Kleid
zu kaufen, oder der selbst Kleider verkauft oder sich in der
Export-Import-Branche betätigt oder irgendeine andere Legitimation vorweisen
kann, zum Beispiel eine Erkältung. Es war für uns ein Kinderspiel, dieses
Abonnement zu bekommen. Herr Sch., der ursprüngliche Besitzer, wurde bekanntlich
wegen Veruntreuung eines ihm anvertrauten Fonds für mehrere Jahre seiner
Bewegungsfreiheit beraubt, und die schweren Zeiten, die daraufhin für Frau Sch.
anbrachen, nötigten sie, das verwaiste Abonnement öffentlich zu versteigern. Es
ging an den Exporteur L., einen der ältesten Kunstmäzene unseres Landes, der
jeden Ruf überbot, weil er den Auktionator nicht verstand. L. ist stocktaub und
ließ sich nach Ablauf der ersten Saison von seiner Frau scheiden. Die Kinder
wurden dem Vater zugesprochen, das Abonnement der Mutter. Kurz darauf nahmen die
Dinge eine Wendung ins Kriminelle: Die geschiedene Frau L. starb unter schweren
Vergiftungserscheinungen, und am nächsten Tag wurde ihr Untermieter im größten
Konzertsaal Tel Avivs, dem Mann-Auditorium, auf dem Abonnementsitz der
Verblichenen aufgegriffen. Der Oberste Gerichtshof verfügte die Beschlagnahme
des Abonnements und brachte es unter seinen Mitgliedern zur Verlosung.
Dieses Abonnement bekamen wir also nicht. Aber unsere Nachbarn, die Seligs,
gingen auf eine Weltreise und traten uns ihr Abonnement ab.
Der dritte Abend des Konzertzyklus begann wie üblich. Die Mitglieder des
Orchesters stimmten ihre Instrumente (ich frage mich immer wieder, warum sie das
nicht zu Hause machen), und der Dirigent wurde mit warmem Beifall empfangen. Er
konnte ihn brauchen, denn draußen war es kalt. Unvermittelt hatte der
Winterfrost eingesetzt und einen jähen Temperatursturz bewirkt. Tschaikowskis »Pathètique«
klang denn auch am Beginn ein wenig starr. Erst als die Streicher gegen Ende des
ersten Satzes das Hauptmotiv wiederholten, kam Schwung in die Sache: Ein in der
Mitte der dritten Reihe sitzender Textilindustrieller hustete. Es war ein
scharfer Sforzato-Husten, gemildert durch ein gefühlvolles Tremolo, mit dem der
Vortragende nicht nur seine perfekte Kehlkopftechnik bewies, sondern auch seine
flexible Musikalität.
Von jetzt an steuerte der Abend immer neuen Höhepunkten zu. Die katarrhalischen
Parkettreihen in der Mitte und ein Schnupfensextett auf dem Balkon, spürbar von
der aufwühlenden Hustenkadenz inspiriert, fielen mit einer jubelnden
Presto-Passage ein, deren Fülle - eine Ensemblewirkung von natürlichem, wenn
auch etwas nasalem Timbre - nichts zu wünschen übrigließ. In dieser Episode
machte besonders die auf einem Eckplatz sitzende Inhaberin eines führenden
Frisiersalons auf sich aufmerksam, die ihr trompetenähnliches Instrument virtuos
zu behandeln wußte und mit Hilfe ihres Taschentuchs reizvolle »Con
sordino«-Wirkungen erzielte. Obwohl sie manchmal etwas blechern intonierte,
verdiente die Präzision, mit der sie das Thema aufnahm, höchste Bewunderung. Ihr
Gatte steuerte durch diskretes Räuspern ein kontrapunktisches Element bei, das
sich dem Klangbild aufs glücklichste einfügte.
Ein gemischtes Duo, das neben uns saß, beeindruckte uns durch werkkundiges
Mitgehen. Beide hielten sich mit beispielhaft konsequentem Husten an die auf
ihren Knien liegende Partitur: »tam-tam« moderato sostenuto, »tim-tim« - allegro
ma non troppo. Meine Frau und ich waren von den Darbietungen hingerissen und
ließen uns auch durch das Orchester nicht stören, dessen disparate Bemühungen in
unvorteilhaftem Kontrast zur Harmonie des Tutti-Niesens standen.
Das nächste Programmstück, ein bläßlicher Sibelius, wurde durch den polyphonen
Einsatz der Zuhörerschaft nachhaltig übertönt. Ich meinerseits wartete, bis das
Tongedicht an einer Fermate zum Stillstand kam und die Bläser für die kommenden
Strapazen tief Atem holten, erhob mich ein wenig von meinem Sitz und ließ ein
sonores, ausdrucksvolles Husten hören, das meine musikalische Individualität
voll zur Geltung brachte.
Die Folgen waren elektrisierend. Der Dirigent, respektvolles Erstaunen im Blick,
wandte sich um und gab dem Orchester ein Zeichen, meine Darbietung nicht zu
unterbrechen. Er zog auch noch einen in der ersten Reihe sitzenden Solisten
heran, einen erfolgreichen Grundstücksmakler, der das von mir angeschlagene
Motiv in hämmerndem Stakkato weiterführte. Befeuert von den immer schnelleren
Tempi, die der Maestro ihm andeutete, steigerte er sich zu einem trillernden
Arpeggio, dessen lyrischer Wohlklang gelegentlich von einer kleinen Unreinheit
gestört wurde, im ganzen aber eine höchst männliche, ja martialische Färbung
aufwies.
Es ist lange her, seit das Mann-Auditonum von einer ähnlich überwältigenden
Hustensymphonie erfüllt war. Auch das Orchester konnte nicht umhin, vor der
unwiderstehlichen Wucht dieser Leistung zurückzuweichen und das Feld denen zu
überlassen, die in der schwierigen Kunst des konzertanten Hustens solche
Meisterschaft an den Tag legten. Das sorgfältig ausgewogene Programm gipfelte in
einem Crescendo von unvergleichlicher Authentizität und einem machtvollen
Unisono, das - frei von falschem Romantizismus und billigen Phrasierungen - alle
instrumentalen Feinheiten herausarbeitete und mit höchster Bravour sämtliche
Taschentücher, Zellophansäckchen, vor den Mund gehaltenen Shawls und
Inhaltionsapparate einsetzte.
Ein unvergeßlicher Abend, der so recht Unterschied zwischen einem gewöhnlichen
Konzert und einem künstlerischen Ereignis erkennen ließ.
7. April. Heute brach
unser Tisch unter der Last des festlichen Mahls endlich zusammen. Meine Frau war
darüber sehr froh. Sie hatte das wackelige Möbelstück ohnehin schon lange
loswerden wollen. Ich zersägte es freudig, und wir machten einen schönen
Scheiterhaufen daraus. Meine Frau behauptet, dass man in Jaffa Tische direkt
beim Hersteller kaufen kann. Das geht rascher und ist billiger.
8. April. Der Hersteller, bei dem wir den Tisch bestellt haben, heißt
Josef Nebenzahl. Er machte auf uns einen besseren Eindruck als seine
Konkurrenten. Er ist ein ehrlicher, aufrechter Mann von sympathischem Äußeren.
Als wir bei ihm erschienen, steckte er bis über beide Ohren in der Arbeit. Sein
gewaltiger Brustkorb hob und senkte sich mit imposanter Regelmäßigkeit, während
er Brett um Brett zersägte, und die tadellosen Maschinen stampften den Takt
dazu. Für den Tisch verlangte er 360 Pfund Anzahlung. Meine Frau versuchte zu
handeln, hatte aber kein Glück. »Madame«, sagte Josef Nebenzahl und sah ihr mit
festem Blick ins Auge, »Josef Nebenzahl leistet ganze Arbeit und weiß, was sie
wert ist. Er verlangt nicht einen Piaster mehr und nicht einen Piaster weniger!«
So ist's recht, dachten wir. Das ist die Rede eines ehrlichen Mannes. Ich
fragte, wann der Tisch fertig wäre. Nebenzahl zog ein kleines Notizbuch aus
seiner Hosentasche: Montag Mittag. Meine Frau schilderte ihm lebhaft, wie es
ohne Tisch bei uns zuginge, dass wir stehend essen müssten und dass unser Leben
kein Leben sei.
Nebenzahl ging in die Nebenwerkstatt, um sich mit seinem Partner zu beraten, kam
zurück und sagte: »Sonntag Abend.« Aber wir müssten den Transport bezahlen.
Nachdem ich die Hälfte der Transportkosten bezahlt hatte, nahmen wir Abschied.
Nebenzahl schüttelte uns kräftig die Hand und sah uns mit festem Blick in die
Augen: Mir könnt ihr vertrauen.
14. April. Bis Mitternacht haben wir auf den Tisch gewartet. Er kam
nicht. Heute früh rief ich Nebenzahl an. Sein Partner sagte mir, Nebenzahl hätte
auswärts zu tun, und er wüsste nichts von einem Tisch. Aber sobald Nebenzahl
zurückkäme, würde er uns anrufen. Nebenzahl rief uns nicht an. Unsere Mahlzeiten
nahmen wir auf dem Teppich ein.
15. April. Ich fuhr nach Jaffa, um Krach zu schlagen. Nebenzahl steckte
bis über beide Ohren in der Arbeit. Die Kreissäge, die er mit mächtiger Hand
bediente, warf Fontänen von Sägespänen um sich. Ich musste mich vorstellen, da
er sich nicht mehr an mich erinnerte. Dann erklärte er mir, dass sein bester
Arbeiter vorzeitig zum Militärdienst eingezogen worden sei, und versprach mir
den Tisch für morgen vier Uhr Nachmittag. Wir einigten uns auf l5.30 Uhr.
»Nebenzahl ist wie ein Präzisionsuhrwerk«, sagte Nebenzahl. »Keine Sekunde
früher und keine Sekunde später«.
17. April. Nichts. Ich rief an. Nebenzahl, so erfuhr ich von seinem
Kompagnon, hatte sich in die Hand geschnitten und hatte sich verbinden lassen
müssen, so dass der Tisch erst morgen zugestellt werden könnte. Nun, ein Tag
mehr oder weniger spielte wirklich keine Rolle.
18. April. Der Tisch kam nicht. Meine Frau behauptet, das von Anfang an
gewusst zu haben. Nebenzahls schiefer, betrügerischer Blick hätte ihr sofort
missfallen. Dann rief sie in Jaffa an. Nebenzahl selbst war am Telephon und fand
überzeugende Trostworte. Das Tischholz hätte unvorhergesehene Schwellungen
entwickelt, jetzt aber sei es im Druckrahmen, und der Tisch so gut wie fertig.
Außerdem seien die Beine noch nicht eingesetzt, aber das würde nicht länger als
drei Tage dauern, und das Polieren nicht länger als zwei. Wir haben bereits
große Übung im Sitzen mit untergeschlagenen Beinen. Die Japaner, ein altes
Kulturvolk, nehmen ihre Mahlzeiten schließlich seit Jahrtausenden so ein.
21. April. Nebenzahls Partner rief uns von sich aus an, um uns
mitzuteilen, dass der Polierer Mumps bekommen hätte. Meine Frau erlitt einen
hysterischen Anfall. »Madame«, sagte Nebenzahls Partner, »wir könnten den Tisch
im Handumdrehen fertigmachen, aber wir wollen Ihnen doch eine erstklassige
Handwerksarbeit liefern. Morgen um zwei Uhr bringen wir Ihnen den Tisch und
trinken zusammen eine Flasche Bier.«
22. April. Sie brachten den Tisch weder um zwei Uhr noch danach. Ich rief
an. Nebenzahl kam ans Telefon und wusste von nichts, versprach uns aber einen
Anruf seines Partners.
23. April. Ich fuhr mit dem Bus nach Jaffa. Nebenzahl steckte bis über
beide Ohren in der Arbeit. Als er mich sah, fuhr er mich unbeherrscht an, ich
sollte ihn nicht unentwegt stören, unter solchem Druck könne er seine
Verpflichtungen nicht erfüllen. Der Tisch sei in Arbeit. Was wollte ich also
noch? Er zeigte mir die Bretter. Erste Qualität. Stahlhart. Wann? Ende nächster
Woche. Sonntag Vormittag.
5. Mai. Selbst diesen strahlenden Sonntag musste mir meine Frau durch
ihre Unkenrufe verderben. »Sie werden nicht liefern«, sagte sie mit typisch
weiblicher Hartnäckigkeit. »Du wirst schon sehen. Die Säge ist gebrochen.« Zu
Mittag rief ich an. Nebenzahl teilte mir mit, dass sie noch an der Arbeit wären.
Sie hätten im Holz ein paar kleinere Sprünge entdeckt und wollten keine
zweitklassige Handwerksarbeit abliefern. Meine Frau hatte wieder einmal unrecht
gehabt. Es war nicht die Säge, es waren Sprünge im Holz. Ende nächster Woche.
12. Mai. Nichts. Meine Frau hat sich bereits damit abgefunden, dass wir
noch mindestens einen Monat warten müssten. Höchstens vierzehn Tage, sage ich.
Ich rief an. Der Kompagnon teilte mir mit, dass Nebenzahl seit vorgestern
Nachmittag abwesend sei. Irgendwelche Geschichten am Zollamt. Wir brauchten gar
nicht mehr anzurufen, pünktlich am Morgen des 3. Juni würde der Tisch vor
unserem Haus abgeladen. »Siehst du«, wandte ich mich an meine Frau. »Du hast von
einem Monat gesprochen, ich von vierzehn Tagen. Drei Wochen sind ein schöner
Kompromiss.« Wir essen liegend, wie die Römer. Sehr reizvoll.
3. Juni. Nichts. Kein Anruf, keine Antwort. Meine Frau: Mitte August.
Ich: Ende Juli. Fuhr mit dem Bus nach Jaffa. An der Endstation hielt gerade ein
Taxi, der Fahrer steckte den Kopf heraus und rief: »Nebenzahl, Nebenzahl!«
Sofort stiegen zwei weitere Passagiere ein. Einer von ihnen hatte seit sechs
Monaten Präsenzdienst bei Nebenzahl, wegen einer Sesselgarnitur. Der andere, ein
Physikprofessor, wartete erst seit zwei Monaten auf seinen Arbeitstisch.
Unterwegs freundeten wir uns herzlich an. In Nebenzahls Werkstatt fanden wir nur
den Kompagnon. Alles würde sich bestens regeln, sagte er. Ich warf einen Blick
in die Werkstatt. Die stahlharten Bretter waren verschwunden.
Auf dem Rückweg diskutierten wir über Nebenzahls Persönlichkeit, über die
Arbeit, die ihn so sehr in Anspruch nimmt, und über seinen Wunsch, es allen
recht zu machen. Daran wird er noch zugrunde gehen. Schon jetzt sieht er aus wie
ein gehetztes Wild. Wir beschlossen, uns nächste Woche wieder an der Nebenzahl-
Linie zu treffen.
Meine Frau leugnet, sich jemals auf Ende August festgelegt zu haben. Ich
verlangte, dass von jetzt an alles schriftlich niedergelegt werden müsste.
30. Juli. Ich wette fünf Pfund auf den Termin Laubhüttenfest, das heuer
in die erste Oktoberhälfte fällt. Meine Frau konterte mit dem Jahresende nach
dem gregorianischen Kalender. Ihre Begründung: Geburt eines Sohnes Nebenzahls.
Meine Begründung: Kurzschluss. Alles schriftlich festgehalten. An der
Haltestelle stieß ein weiterer Nebenzahl- Fan zu uns, ein älteres Mitglied des
Obersten Gerichtshofs mit Bücherregal. zwei Jahre. Der Konvoi rollte nach
Nebenzahl steckte bis über beide Ohren in der Arbeit. Durch Fontänen von
Sägespänen und das Dröhnen von Maschinen rief er uns zu, dass er unmöglich mit
jedem einzelnen von uns sprechen könne. Ich wurde zum Sprecher der Gruppe
bestimmt. Nebenzahl versprach diesmal feierlich, dass Ende November alles
geliefert sein würde, mein Tisch sogar etwas früher, um das jüdische Neujahr
herum. Warum so spät? Weil Nebenzahls eine Tochter erwarten. Der Physikprofessor
schlug vor, dass wir auch untereinander Wetten abschließen sollten. In der
gleichen Straße befände sich ein Buchdrucker, Schaukelstuhl, 18 Monate, der uns
die nötigen Quiz- Formulare drucken würde. Gründung eines Nebenzahl- Klubs.
21. August. Diesmal fand die Klubsitzung bei uns statt. 31 Teilnehmer.
Das Mitglied des Obersten Gerichtshofs brachte die endgültigen Statuten des
Nebenzahl- Klubs mit. Wer ordentliches Mitglied werden will, muss mindestens
drei Monate gewartet haben. Mit geringerer Wartezeit wird man Kandidat.
Genehmigung der Wett- Formulare. Es sind jeweils drei Sparten auszufüllen a)
versprochenes Datum der Fertigstellung b) Ausrede, c) tatsächliches Datum der
Lieferung (Tag, Monat, Jahr). Mit Mehrheit wurde beschlossen, bei einem
renommierten Künstler ein Porträt in Auftrag zu geben: Josef Nebenzahl, bis über
beide Ohren in der Arbeit steckend und dem Besucher mit festem Blick in die
Augen sehend.
Die Klubmitglieder sind ungewöhnlich nette Leute, ohne Ausnahme. Wir bilden eine
einzige, große, glückliche Familie. Alle essen auf dem Fußboden.
2. Januar. Heute war ich an der Reihe, bei Nebenzahl vorzusprechen. Er
entschuldigte sich für die Verspätung. Zeugenaussage vor Gericht. Zeitverlust.
Dann zog er das kleine Notizbuch aus seiner Hosentasche, blätterte, überlegte
angestrengt und versprach mir in die Hand, übermorgen Nachmittag mit der Arbeit
an unserem Tisch zu beginnen. Wir füllten sofort die Formulare aus. Meine Frau:
l. Juni. Ich: 7. Januar nächsten Jahres.
1. Februar. Festversammlung des Nebenzahl- Klubs. Ständiges Anwachsen der
Mitgliederzahl. Am Quiz beteiligen sich bereits 104 Personen. Die Inhaberin
hatte 50 auf die Lieferung einer Ersatzschublade gewettet, 15. Januar, Grippe,
7. Juli, und gewann 500 Pfund, da sie sowohl die Daten als auch die Ausrede
richtig erraten hatte. Die Festsetzung wurde durch ein Konzert unseres
Kammerquartetts eröffnet, drei Stühle, eine Gartenbank. Im Rahmen des
Kulturprogrammes hielt der Prorektor des Technikums in Haifa einen Vortrag über
das Thema »Der Tisch, ein überflüssiges Möbel«. Seine farbigen Schilderungen
über die Speisegewohnheiten des frühen Neandertalers fanden größtes Interesse.
Nach dem Bankett erfolgte in drei Bussen die traditionelle Pilgerfahrt nach
Jaffa. Nebenzahl steckte bis über beide Ohren in der Arbeit. Er versprach, bis
Freitag Nachmittag alles fertigzustellen. Die Verzögerung sei auf eine
unangenehme Affäre in seiner Familie zurückzuführen.
4. September. Unser Exekutivkomitee bereitet die Einrichtung eines
medizinischen Hilfsfonds für Nebenzahl- Kunden vor. Ferner wurde eine
Monatszeitschrift mit dem Titel »Ewigkeit« beschlossen, die sich mit aktuellen
Fragen beschäftigen soll: Beschreibung neuer Maschinen in den Nebenzahl-
Werkstätten, mit Fotos, Namenslisten, Lehrlingen und Gehilfen, Resultate des
Nebenzahl- Quiz, Führungen durch Jaffa, eine ständige Rubrik »Neues aus der
Tischlerei« und anderes mehr. Das Training unserer Basketballmannschaft findet
jetzt zweimal wöchentlich statt. Wir machen gute Fortschritte. Das Geld für den
Bau eines Nebenzahl- Klubhauses soll durch Anleihen aufgebracht werden.
Nach Schluss der Sitzung wurde der in den Statuten vorgeschriebene Anruf nach
Jaffa durchgeführt. Nur der Kompagnon da. Nebenzahl befindet sich auf
Hochzeitsreise. Der Kompagnon versprach, für beschleunigte Abwicklung zu sorgen.
Meine Frau setzte 300 Pfund auf den 17. August in drei Jahren.
10. Januar. Etwas vollkommen Unerklärliches ist geschehen. Heute
Vormittag erschien Josef Nebenzahl vor unserem Haus und zog eine Art von Tisch
hinter sich her. Wir fragten uns, was er wohl vorhätte. Nebenzahl erinnerte uns,
dass wir vor einiger Zeit, er wüsste nicht mehr genau, wann, bei ihm einen Tisch
bestellt hätten, und der wäre jetzt also fertig. Offenbar handelte er in
geistiger Umnachtung. Seine Augen flackerten. »Nebenzahl verspricht, Nebenzahl
liefert«, sagte er. »Bitte zahlen Sie den Transport. « Es war ein fürchterlicher
Schlag für uns. Adieu Nebenzahl- Klub, adieu Vorstandssitzungen, Kulturprogramm
und Wetten. Aus und vorbei. Und das Schlimmste ist: Wir wissen nicht, was wir
mit dem Tisch machen sollen. Wir können längst nicht mehr im Sitzen essen. Meine
Frau meint, wir sollten uns nach den Mahlzeiten unter dem Tisch zur Ruhe legen.